Professorin Daniel:
Die Ernährungswissenschaft bildete sich in Deutschland aus den Haushalts- und Ernährungswissenschaften heraus. Im Wirkungsbereich der Agrarwissenschaft ist in Gießen, in den 1960er-Jahren, die Idee entstanden, jungen Frauen eine akademische Ausbildung zu allen Teilbereichen der Versorgung und Ernährung einschließlich Haushaltsführung und Familiensoziologie zu bieten.
Die Oecotrophologie hat sich zwischenzeitlich, wie alle Wissenschaftsbereiche, emanzipiert und diversifiziert. So gibt es eine verselbständigte Haushaltswissenschaft und eine Ernährungswissenschaft, die sehr viel akademischer sind als früher. Die Ernährungswissenschaft reicht dabei von der Genetik und Zellbiologie zur Epidemiologie und Biomedizin. Dennoch versteht sich die Ernährungswissenschaft in erster Linie immer noch als eine Versorgungswissenschaft – und zwar zur Verbesserung der Volksgesundheit. Das heißt, sie definiert ihre Bedeutung im Wissenschaftsbetrieb vor allem über die Ernährungsprobleme der Bevölkerung. Umgekehrt wird eben auch von der Ernährungswissenschaft erwartet, beständig Antworten auf alle angewandten Fragen des Essens und der Ernährung zu liefern. Wie kaum eine andere Wissenschaft konnte sie sich nie darüber definieren, dass sie grundlegende und ebenso spannende Fragen bearbeitet – losgelöst davon, ob sie jetzt vordergründig der Gesellschaft und der Gesundheit dienlich sind oder nicht. Eine Wende hat sie allerdings geschafft, denn noch in den 1960er-Jahren hieß es, wir sind wichtig, weil wir Sorge tragen, dass die Bevölkerung genügend Nährstoffe bekommt. Die Wende war, dass sie heute sagen kann, wir sind wichtig, weil die Energiezufuhr der Bevölkerung zu hoch und der Energieverbrauch zu gering ist. Die Frage ist, wie sieht Ernährungswissenschaft 3.0 oder 4.0 aus?
Mein Plädoyer lautet: Wir sollten uns nicht wichtig nehmen, weil die Gesellschaft Probleme hat, sondern wir sollten uns wichtig nehmen, weil die Fragen, die wir wissenschaftlich bearbeiten, wichtig sind. Die Fragen können bedeutungslos für die Gesellschaft sein, aber extrem relevant aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Ich würde mir wünschen, dass die Ernährungswissenschaft auch in andere Wissenschaftsbereiche eindringt – und das tut sie glücklicherweise.
Professor Rechkemmer:
Ein Mediziner und Physiologie, Max Rubner, war einer der ersten Wissenschaftler, die in Deutschland Ernährungsforschung auf hohem wissenschaftlichem Niveau betrieben. Bei seiner Forschung ging es zunächst um die Energiebilanz und den Energiegehalt von Lebensmitteln. Aber wie es zu damaligen Zeiten war – Max Rubner starb 1932 – bearbeitete man sein Forschungsgebiet viel umfassender als heute, so befasste sich Rubner auch mit Fragen der Hygiene oder der Haushaltsführung.
Das Fach Ernährungswissenschaften entstand in den 60er- und 70er-Jahren im Umfeld der Agrarforschung und war damals wie auch heute an vielen Ausbildungsstätten in den agrarwissenschaftlichen Fakultäten eingegliedert. Während es zunächst um die Forschung rund um die Ernährung, z. B. die Deckung des Bedarfs an essentiellen Nährstoffen ging, spaltete sich das Fach später auf. In einigen Universitäten wurden die Haushaltswissenschaften einbezogen und der „Oecotrophologe“ in Abgrenzung zum Ernährungswissenschaftler wurde als Berufsbezeichnung eingeführt. Während sich die eigentlichen Ernährungswissenschaften weitgehend auf naturwissenschaftliche Inhalte konzentrierten, integrierten die Oecotrophologen auch in zunehmendem Maße soziologische Aspekte wie Ernährungsverhalten oder Themen wie Haushaltsökonomie.
Mit der Bologna-Reform hat sich inzwischen im Zuge der Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen eine Vielzahl unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen ergeben, die dem Studiengang eine ganz neue Breite geben. Auch die Orte, an denen man Ernährungswissenschaften oder Oecotrophologie studieren kann, haben zugenommen: neben Gießen, sind es heute Stuttgart-Hohenheim, München, Bonn, Kiel, Potsdam, Jena, Halle und zahlreiche Hochschulen mit eigenen Profilen.
Diese Breite und eine insgesamt eher wachsende Bedeutung des Themas in der Forschung sind wichtig, um die äußerst komplexen, interdisziplinären Zusammenhänge zwischen Essen und Trinken sowie der Gesundheit – physisch, aber auch psychisch – immer weiter tiefergehend aufklären zu können.
Es ist leicht zu beobachten, dass die Bedeutung des Themas Ernährung in der Gesellschaft in den letzten Jahren enorm zugewonnen hat. Wie die WHO regelmäßig meldet, steigt auch heute noch global die Rate an nicht-übertragbaren Krankheiten immer weiter. Zur Kategorie „nicht-übertragbare Krankheiten“ zählen auch Krankheiten, die in einem Zusammenhang mit der Mangel- oder Fehl-Ernährung stehen. Was könnte wichtiger sein, als das Wissen zu generieren, um diese Krankheiten womöglich vorbeugend zu vermeiden, zumal nicht nur die Rate der Krankheiten, sondern auch die Todesfälle in dieser Kategorie zunehmen.
Neben diesen direkten angewandten Aspekten kommt jedoch der Ernährungswissenschaft in der Nutzung neuer biomedizinischer Methoden eine zunehmende Bedeutung zu, z. B. im vertieften molekularen Verständnis, der durch bioaktive Moleküle aus Lebensmitteln vermittelten zellulären Regulations- und Signalmechanismen im Hinblick auf Zelldifferenzierungs- und Zellalterungsprozesse. Hier kann die Ernährungswissenschaft mit den modernen Methoden (Omics-Technologien, bildgebende Verfahren) neue Erkenntnisse liefern und damit viel stärker als in den vergangen Jahrzehnten zu neuen Erkenntnissen der biomedizinischen Forschung insgesamt beitragen.